Autor: Andrè Eichelbaum
Jeder Mensch lernt auf individuelle Weise. Das betrifft nicht nur den Input und das Tempo, sondern auch den bevorzugten Ort des Lernens. Viele reformpädagogische Ansätze haben diese Tatsache längst erkannt. Doch im regulären Schulalltag ist das bis heute die Ausnahme. Eine solche Ausnahme – oder besser: ein Experimentierfeld für das, was Schule sein könnte – findet sich in Wutöschingen nahe der Schweizer Grenze.
Von der Ausnahme zur Idee mit Strahlkraft
An der Alemannenschule Wutöschingen (ASW), einer staatlichen Gemeinschaftsschule, in der die Schüler*innen alle Klassenstufen von der Einschulung bis zum Abitur durchlaufen können, hat das Team um den ehemaligen Schulleiter Stefan Ruppaner eine radikal neue Lernkultur etabliert. Das Konzept nennt sich Schmetterlingspädagogik. Es basiert auf zwei zentralen Elementen: dem selbstorganisierten Lernen (SoL) und dem Lernen durch Erleben (LdE). Beide werden als „zwei Flügel“ verstanden, die gemeinsam das Gleichgewicht eines neuen Lernverständnisses ermöglichen. Der Schmetterling steht außerdem für einen behutsamen Umgang mit den Schüler*innen sowie für die verschiedenen Entwicklungsstadien, die ein Kind im Laufe seiner Schulkarriere durchläuft, ähnlich der Metamorphose des Schmetterlings.
Der Jenaplan und noch einen Schritt weiter
Im Prinzip ist die Schmetterlingspädagogik die konsequente Weiterentwicklung der Jenaplan-Schulen. Dabei geht es nicht um eine Methode, sondern um eine Haltung: Kinder sind Subjekte ihres Lernens. Schule wird nicht mehr als Ort der Belehrung gedacht, sondern als Resonanzraum, in dem Entwicklung möglich ist. Prüfungen, Noten und starre Lehrpläne verlieren an Bedeutung, dafür gewinnen Eigenverantwortung, Sinnhaftigkeit und Dialog an Gewichtung.
SoL – Selbstorganisiertes Lernen
Die Schüler*innen (hier Lernpartner*innen genannt) erarbeiten sich die curricularen Inhalte weitgehend selbst. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten Kompetenzraster, die fachspezifisch vorliegen und in mehrere Teilbereiche unterteilt sind. Im Fach Deutsch zählen dazu unter anderem Lesen, Sprechen, Literatur, Sprachgebrauch und Präsentieren. Jeder Kompetenzbereich ist in drei Niveaustufen gegliedert: Mindest-, Regel- und Expert*innenstandard. Zur Aneignung der jeweiligen Kompetenzen können die Lernpartner*innen auf vielfältige Materialien und digitale Tools zurückgreifen. Ihren individuellen Lernfortschritt dokumentieren sie mithilfe von Stempelkarten. Schließlich werden die einzelnen Kompetenzen mit einem Gelingensnachweis abgeschlossen. Diese werden nicht wie Klassenarbeiten in Gruppen geschrieben, sondern individuell zu einem selbstgewählten Termin angesetzt, wenn die Lernenden sich dazu bereit fühlen.
LdE – Lernen durch Erleben
Lernen durch Erleben bezeichnet in der Schmetterlingspädagogik einen handlungsorientierten Ansatz, bei dem Kinder sich Inhalte über direkte Erfahrungen und aktive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt aneignen. Dabei steht nicht die reine Wissensvermittlung im Vordergrund, sondern das eigenständige Erforschen, Ausprobieren und Reflektieren. Durch konkrete Handlungen – etwa im Rahmen von Projekten, Experimenten oder Alltagssituationen – werden Lernprozesse angestoßen, die kognitives, emotionales und soziales Lernen miteinander verbinden. Auf diese Weise wird Wissen nachhaltig verankert und individuell bedeutsam. Lernen durch Erleben kann auf vielfältige Art geschehen: Beim Besuch auf dem Bauernhof, beim Bau von Baumhäusern, in einem Musical-Projekt. Kreatives Handeln und verstehendes Beobachten ist immer eng mit einem Lernprozess verbunden.
Der Raum als Mitgestalter von Bildung
Ein weiteres zentrales Element der Schmetterlingspädagogik ist die Neuinterpretation von Lernräumen. Die Alemannenschule hat den althergebrachten Klassenraum bewusst hinter sich gelassen. Stattdessen finden sich dort unterschiedlich gestaltete Lernumgebungen:
- Inputräume, in denen kurze thematische Einführungen stattfinden
- Coachingräume für individuelle Gespräche mit den Lernbegleiter*innen
- Marktplätze, die projektorientiertes Arbeiten in wechselnden Gruppen ermöglichen
- Lernateliers, ruhige Rückzugsorte mit festen, persönlichen Arbeitsplätzen
Der Inputraum
Inputräume sind teilweise in den kooperativen Lernbereich integriert oder werden von diesem abgetrennt. Die Einrichtung ist stark reduziert. In ihnen werden kurze Inputsequenzen abgehalten, mit denen die Lernpartner*innen in ein bestimmtes Thema eingeführt und dafür begeistert werden sollen. Die Räume meist nur mit einem Bildschirm an der Wand und mit Lautsprechern ausgestattet. Sie werden neben den Inputsequenzen auch für Clubs, den Lerngruppenrat, die Lernberatung und vieles mehr genutzt. Es gibt sie als Sitz- oder Stehinputräume.
Der Coachingraum
Persönliche Einzelgespräche und die Coachingzeit zwischen Lernbegleiter*in und Lernpartner*in finden in besonderen Coachingräumen statt. Die Umgebung schafft einen geschützten Rahmen, der Vertraulichkeit ermöglicht. Die Einrichtung ist einerseits gemütlich aber klar strukturiert in der Ausstattung, um konzentrierte und persönliche 1:1-Gespräche zu ermöglichen. Coachingräume dienen ebenfalls als Rückzugsmöglichkeit.
Der Marktplatz
Im Gegensatz zum Lernatelier ist der Marktplatz ein kooperativer Lernbereich, der mit Tischen, gemütlichen Sofas und Sitzkissen ausgestattet ist. Lernpartner*innen arbeiten hier in Gruppen und lernen, wie es für sie am bequemsten ist: im Sitzen, im Liegen oder auch im Stehen. Durch Vorhänge lässt sich ein Teil der Fläche in kleine Nischen und Rückzugsorte verwandeln. Der Marktplatz ist in bunten, kontrastreichen Farben gestaltet, was die Vielfalt von Meinungen und Gedanken repräsentiert und zu einem offenen Austausch anregt.
Das Lernatelier
Das Lernatelier ist der Lernbereich, in dem alle Lernpartner*innen von Jahrgang 1 bis 10 einen individuellen Arbeitsplatz haben. In diesem Raum finden Gespräche ausschließlich im Flüsterton statt. Die Farben sind hier überwiegend ruhige und dezente eingesetzt, um gemeinsam mit einer klar strukturierten Möblierung die nötige Ruhe für Konzentration und Selbstreflexion zu schaffen.
All diese Räume basieren auf dem Prinzip des Vertrauens, und folgen nicht der Idee der frontalen Belehrung. Sie laden zur Bewegung ein, zur Wahl des passenden Ortes – je nach Aufgabe, Stimmung und persönlichem Bedürfnis. Die Gestaltung ist flexibel, modular und offen – sie bietet Orientierung und Optionen, ohne zu begrenzen.
Die Architektur wird so zum pädagogischen Akteur. Sie regt zur Eigenverantwortung an und ermöglicht es, Lernen als etwas Selbstbestimmtes zu erleben. Diese Räume fördern nicht nur die Fachkompetenz, sondern auch die emotionale Sicherheit, die soziale Rücksichtnahme und die kreative Entfaltung.
Ein Konzept – eine Erfolgsgeschichte
Einer der deutlichsten Erfolge dieser Herangehensweise zeigte sich zur Zeit der Schulschließungen in der Corona-Pandemie. Während in den meisten Schulen große Ratlosigkeit herrschte, wie sinnvoller Unterricht außerhalb der Klassenräume umgesetzt werden könnte, waren die Lernpartner*innen der Alemannenschule bestens vorbereitet. Das selbstständige Erarbeiten von Lerninhalten ohne den Input durch eine Lehrkraft war für sie bereits zum schulischen Alltag geworden.
Überhaupt zeigt ein Leistungsvergleich, dass die Schmetterlingspädagogik das eigentliche Ziel von Schule, nämlich das Erlangen von Wissen und Kompetenzen, hier effektiver erreicht werden kann als an einer Regelschule. Seit in Wutöschingen das Konzept umgesetzt wurde, liegen die Schüler*innen der Alemannenschule im Vergleich stets signifikant über dem Landesdurchschnitt.
Es fehlt an Haltung
Wenn dieses System so gut funktioniert, stellt sich selbstverständlich die Frage, warum es nicht schon an mehreren oder gar an allen deutschen Schulen umgesetzt wird. Dazu hat die Konrektorin Patricia Schmidt eine klare Antwort: „Es braucht eine gehörige Portion Mut, Schule anders zu denken.“ Und Mut wird durch unser starr an die alten Gewohnheiten festhaltendes Schulsystem nicht gerade gefördert.
Gibt es Ausnahmen? Funktioniert das System nur in einem behüteten Inselidyll? Auch hier widerspricht Schmidt: „Ich würde sagen, dass wenn die Haltung stimmt, dass dann die Umsetzung der Schmetterlingspädagogik an jeder Schule möglich ist.“ Was sicher daran liegt, dass sie keiner extrinsischen Pädagogik, sondern der natürlichen kindlichen Neugierde und somit dem eigentlichen Begriff von Lernen folgt.
Schluss mit der Frontalbelehrung
Von der Arbeit der Lernbegleiter*innen war bisher nur wenig die Rede. Sie stehen in Wutöschingen nicht mehr im 45-Minuten-Takt vor den Klassen und versuchen ihr Wissen an bis zu 30 mehr oder weniger aufmerksame Schüler*innen weiterzugeben. Sie verstehen sich bei diesem Konzept vorwiegend als Ansprechpartner*innen in Problemfällen und als Coach*innen. Ist dieser Ansatz deshalb einfacher, entspannter für die Lehrkräfte, weil sie nicht in ein von Widerständen geprägtes 45-Minuten-Lernraster gepresst werden? Den Lehrer*innen, die denken, dass diese Form der Begleitung und des Coachings weniger Aufwand mit sich bringt, möchte Frau Schmidt keine falschen Hoffnungen machen. Sie bringt es mit der Aussage: „Es ist nicht weniger, sondern eine völlig andere und entspanntere Arbeit“ auf den Punkt. Aber es ist eine Arbeit, die auf Vertrauen basiert, das in den meisten Fällen durch ein selbstständiges Engagement der Lernpartner*innen beantwortet wird.
Die Lernumgebungen in Wutöschingen sind gelebter Beweis für die These, dass junge Menschen Verantwortung übernehmen können, wenn man ihnen den Raum dafür gibt – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Diese Erfahrung machen viele Schüler*innen an der ASW. Der Wechsel vom Belehrtwerden zur Selbstgestaltung verändert nicht nur das Lernen, sondern auch das Selbstbild der jungen Menschen. Räume spielen dabei eine entscheidende Rolle – sie können Vertrauen oder Misstrauen ausstrahlen, Offenheit fördern oder verhindern, Gemeinschaft oder Einzelkämpfertum stärken.
Perspektivwechsel: Lernräume als Teil der Pädagogik
Wenn man das Lernen als aktiven, individuellen Prozess versteht, braucht es dafür Räume, die eben dieses Lernen ermöglichen – und nicht nur verwalten. Das betrifft längst nicht nur Leuchtturmprojekte wie Wutöschingen, sondern alle Schulen, die sich auf den Weg machen, Lernen neu zu denken.
In der Diskussion über gute Bildung wird der Einfluss der physischen Lernumgebung häufig unterschätzt. Dabei zeigen viele internationale Studien und Praxisbeispiele: Architektur und Möblierung haben messbare Effekte auf Aspekte wie Motivation, Konzentration, Wohlbefinden und somit auf den Lernerfolg. Der Raum ist kein Nebenschauplatz pädagogischer Überlegungen, sondern ein integraler Bestandteil davon.
Für Schulen, die sich verändern wollen, stellt sich deshalb eine zentrale Frage: Wie lassen sich pädagogische Konzepte und die räumliche Gestaltung aufeinander abstimmen? Und: Welche konkreten Gestaltungsprinzipien können Räume zu „Mitlernenden“ machen?
FLS – Lernräume gestalten, die pädagogisch wirken
Als Unternehmen, das sich auf die Gestaltung von Lernräumen spezialisiert hat, beschäftigen wir uns bei FLS tagtäglich mit diesen Fragen. Unsere Aufgabe ist es, Schulen bei der Entwicklung von Raumkonzepten zu begleiten, die das jeweilige pädagogische Profil unterstützen – nicht als einheitliches Produkt, sondern als passgenaue Lösung.
Das Beispiel der Alemannenschule ist dabei sehr inspirierend, aber nicht im Sinne eines Modells, das es zu kopieren gilt. Vielmehr zeigt es, wie stark Raum, Haltung und Organisation ineinandergreifen können. Wenn sich Schulen auf den Weg machen, neue Lernformen zu erproben, benötigt es Raumlösungen, die flexibel und anpassungsfähig sind – es benötigt Räume, die keine pädagogischen Vorgaben machen, sondern die anregen zu lernen und diesem neuen Lernen einen fruchtbaren Boden bereiten.
Unsere Rolle verstehen wir nicht als Impulsgeber von außen, sondern als Partner in einem gemeinsamen Gestaltungsprozess: Beobachten, Fragen stellen, Möglichkeiten eröffnen – damit am Ende Räume entstehen, die nicht nur schön, sondern auch wirksam sind.